- Projekt 4
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Fremdsein unter Erstsemesterstudierenden im Setting der Universität. Eine ethnografische Annäherung
Lea Herburg & Judith Rothe
Präsentation der Lehrforschungsergebnisse
"doing becoming and doing being stranger/strangeness" SoSe 2019 - WiSe 2019/20 // Institut für Soziologie //
AB Qualitative Methoden und Mikrosoziologie
Lea Herburg & Judith Rothe
Mobilität und eine weitaus globalisierte Welt ermöglichen es heute, in weit entfernten Städten zu arbeiten, zu leben und zu studieren. Viele Schüler*innen wollen nach dem Abitur ein Studium beginnen und stellen sich die Frage, wohin die Reise geht. Nachdem sie jahrelang an ihren Schulort gebunden waren, können sie nun meist selbst entscheiden wo sie die nächste Zeit ihres Lebens verbringen wollen. Durch zahlreiche neue Perspektiven ergeben sich unbekannte Herausforderungen. Nicht nur, dass viele der Abiturient*innen ihre Heimatstadt verlassen und in eine andere Stadt ziehen, ebenso müssen sie lernen, mit dem für sie neuen System der Universität klarzukommen. Die Leute in der Stadt sind ihnen unbekannt, sowie auch die Universität und ihre Lehren. Stellt sie dies vor eine Herausforderung? Ist es schwer für sie sich gleichzeitig in der unbekannten Umgebung zurechtzufinden, neue Freundschaften zu knüpfen und sich einzuleben? Die neuen Studierenden werden in eine meist neue, unbekannte Umgebung geführt. Kommen bei ihnen in dieser Situation Fremdheitsgefühle auf und wenn ja, wo und warum? Genau dieser Frage wurde in dieser Forschung nachgegangen. Vorherige Forschungsansätze, welche sich mit dem Thema Fremdheit befassten, hatten als Hauptaugenmerk Fremdheit bei Personen aus dem Ausland bzw. mit Asyl (vgl. Hellmann 1998: 402f.). Fremdheitsforschungen an der Universität befassten sich mit Bildungsaufsteiger*innen (vgl. Käpplinger et al. 2019: 296f.), jedoch nicht mit der allgemeinen Studienschaft. Daher war es ein Anliegen das Fremdheitskonstrukt bei neuen Studierenden im Allgemeinen zu untersuchen. Ziel dieser Arbeit war es herauszufinden, ob und wann sich neue Studierende an der Universität fremd fühlen und was ihnen dabei helfen könnte, dieses Gefühl von Fremdheit zu überwinden. Dabei spielte sowohl das Fremdsein als auch das Fremdwerden eine zentrale Rolle. Mit Hilfe ethnografischer Interviews (vgl. Spradley 1979) wurden die Erstsemesterstudierenden in ihrem neuen Alltag in einer Großstadt in Thüringen begleitet. Durch die Begleitung einzelner Personen wurden so genau Punkte über individuelle Fremdheitsgefühle herausgefiltert.
Unser Forschungsprojekt möchte fokussieren, inwiefern Erstsemesterstudierende Fremdheit erleben. Inwiefern allerdings Personen Fremdheit erleben, hängt auch mit den Wissens- und Handlungsordnungen von Fremdheit zusammen. Dabei verstehen wir Fremdheit als Moment, welcher im Alltag durch Interaktion innerhalb einer kulturellen Wissensordnung hergestellt wird. Was Fremdheit für einzelne Erstsemesterstudierende bedeutet, ist ausgehend von der Person und dem Kontext sehr unterschiedlich. Damit knüpfen wir an den Ansatz des doing strangeness while doing students im Anschluss an das doing difference-Konzept von West und Fenstermaker (1995) an. Fremdheit ist ein soziales, also vom Menschen geschaffenes Konstrukt. Fremdheit wird entlang unterschiedlicher Differenzdimensionen wie Alter, Milieu, Herkunft etc. hergestellt, die zur sozialen Inklusion und Exklusion führen können.
Im Zuge des doing strangeness-Ansatzes und mit Blick auf das Forschungsprojekt gehen wir somit davon aus, dass die Erstsemesterstudierenden Fremdheit im aktiven „Tun“ im Setting der Universität herstellen. Und: Wer oder was für Erstsemesterstudierende fremd ist, ist damit sehr unterschiedlich und wird durch die genannten Differenzdimensionen strukturiert.
Um einen genauen Einblick in den Alltag der Erstsemesterstudierenden zu bekommen, wurde vor allem mit der teilnehmenden Beobachtung gearbeitet. Dies schaffte die Möglichkeit als Person direkt am Geschehen teilzuhaben und gleichzeitig eine gewisse Distanz zu bewahren, welche für die Bearbeitung unseres Forschunsgegenstandes wichtig ist. Außerdem lassen sich so Hintergründe der Handlungen von den Studierenden besser verstehen, welche sich für Außenstehende nicht unmittelbar erschließen. In Folge der Beobachtungen wurden einzelne Studierende befragt. Zunächst fand eine Beobachtung mit daraufhin folgenden Interviews an den Studieneinführungstagen (STET) im Oktober 2019 an der Universität einer größeren Stadt in Thüringen statt, welche einen groben Ausblick darüber gaben, wo der nächste Teil der Forschung ansetzen könnte. Während der STET waren vor allem Gruppendynamiken zu beobachten. Ebenso fanden ethnographische Interviews nach Spradley (1979) statt. Diese gleichen einem „freundlichen Gespräch“ (ebd.), bei dem die interviewende Person das Gespräch leitet. So sollen sich genauere Hintergründe über die im Feld agierende Person aufklären lassen. Später, einige Wochen nach Semesterbeginn, wurden einzelne Studierende in ihrem Alltag begleitet, um zu sehen, wie sie sich eingelebt hatten und wie sie die Fremdheit zu Beginn, oder vielleicht zu diesem Zeitpunkt noch, erlebten. Hier war es besonders vom Vorteil einen direkten Bezug zu den Studierenden zu haben, ihren Alltag zu sehen und ihr Handeln gegenüber den Kommiliton*innen und in den Lehrveranstaltungen. Die Auswertung der durch die teilnehmende Beobachtung gewonnenen Daten fanden mit Hilfe der Grounded Theory (vgl. Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2014) statt. Ein wichtiges Hilfsmittel war dabei das Programm MAXQDA.
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Fremdheit schien bei den meisten Erstsemesterstudierenden ein alltägliches Gefühl zu sein. Dennoch konnten die Beobachtungen zeigen, dass die Studierenden sich nicht in einem spezifischen Bereich fremd fühlen, sondern in unterschiedlichen Bereichen: bei manchen Studierenden war es die Universität, bei anderen die Stadt etc. Besonders auffällig waren bestimmte Verhaltensweisen von den Personen: war ihnen jemand oder etwas fremd, gingen sie vorsichtig und mit Abstand darauf zu.
Auffällig waren hier einmal die Nähe und Distanz. Personen die bekannt waren wurden direkt angesteuert und integriert, wohingegen fremde Personen vorerst meist in Abstand gehalten wurden. So blieb eine Person in ihrer vertrauten Gruppe und grenzte sich räumlich zu anderen unbekannten Einzelpersonen oder Gruppen ab. Sehr interessant war dabei, was vor allem in den Beobachtungen festgestellt werden konnte, wie sich diese Beziehungen mit der Zeit veränderten. Den Beobachteten schien ihre „Gleichheit“ mehr und mehr bewusst zu werden, sie verhielten sich den anderen gegenüber offener und agierten nach und nach immer mehr als Gruppe statt als Individuen.„[…] Der Fremde ist uns nah, insofern wir Gleichheiten nationaler oder sozialer, berufsmäßiger oder allgemein menschlicher Art zwischen ihm und uns fühlen […]“ (Simmel 1908, S. 511). Der oder das Fremde tritt somit nicht nur als fremd auf, sondern auch als Teil der Gesellschaft und in ihr vereint (vgl. Simmel 1908, 509f.).
Anschließend dazu ließ sich das Handy als wichtiger Gegenstand in der Beobachtung verordnen. Um an das Nähe-und-Distanz-Verhältnis anzuknüpfen, lässt sich hier sagen, dass Handys vor allem zur Ablenkung und als Distanzmittel benutzt wurden, besonders bei Einzelpersonen in einer fremden Umgebung. Aber auch zur Orientierung wurde das Handy in vielen Fällen der Befragungen genannt. So spielen bei diesem Aspekt sehr viele Unterpunkte eine wichtige Rolle. Vor allem der Austausch untereinander wurde verstärkt über das Handy getätigt. Die Studierenden benannten diesen Aspekt als besonders positiv: es sei so möglich im Austausch und Kontakt mit Betreuern und Studierenden aus höheren Semestern zu bleiben.
"Das Zuhause ist da, wo die sozialen Kontakte sind." (Protokoll)
Außerdem war auffällig, wie viele der Studierenden bei der Wahl des Studienortes vorgingen. Viele wählten einen Ort, welcher ihnen entweder bekannt war oder in der Nähe zu ihrer Heimatstadt lag. Somit hatten viele der Erstsemesterstudierenden einen Bezug zu Jena und beschrieben die Stadt als weniger fremd. Ebenso richten sich viele Studierende zu Beginn danach neue Kontakte zu knüpfen, um die Fremdheit etwas zu verringern. Soziale Kontakte bilden für die meisten die Grundlage um sich „heimisch“ zu fühlen.
Insgesamt lässt sich sagen, dass sich bei den meisten Studierenden zu Beginn des Studiums ein Gefühl von Fremdheit einstellt, welches sich aber nach und nach legt. Dies geschieht zum einem nach einer gewissen Zeit der Eingewöhnung, zum anderen empfanden die Erstsemesterstudierenden die Studieneinführungstage (STET) als große Hilfe, da ihnen die Veranstaltung dabei half sich in der Stadt zurechtzufinden, neue Leute kennenzulernen und ebenso einen Einblick in das System der Universität zu bekommen.
Fenstermaker, Sarah/West, Candace: Doing Difference. Gender and Society. 9(1): 8-37.
Käpplinger, Bern/Miethe, Ingrid/Kleber, Birthe (2019): Fremdheit als grundlegendes Erleben von Bildungsaufsteiger/-innen im Hochschulsystem? Weinhein. Beltz Juventa: 296-308.
Hellmann, Kai-Uwe (1998): Fremdheit als soziale Konstruktion. Eine Studie zur Systemtheorie des Fremden. In: Münkler, Herfried/Meßlinger, Karin/Ladwig, Bernd (Hg.): Die Herausforderung durch das Fremde. Berlin. Akademie Verlag: 401-459.
Przyborski, Agalja/Wohlrab-Sahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. Oldenbourg. De Gruyter.
Simmel, Georg (1908): Exkurs über den Fremden. In: Ders. (Hg.): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin. Duncker & Humblot: 509-512.
Spradley, James (1979): The Ethnographic Interview. New York. Rinehart Winston Holt.
Herburg, Lea/Rothe, Judith (2020): Fremdsein unter Erstsemesterstudierenden im Setting der Universität. Eine ethnografische Annäherung. Entstanden im Rahmen der Lehrforschung "Fremdsein & Fremdwerden heute - ein ethnografischer Streifzug durch die Stadt" von Eva Tolasch am AB Qualitative Methoden und Mikrosoziologie des Instituts für Soziologie der FSU Jena. URL: https://fremdheit-in-der-stadt.de/projekt4