- Projekt 3
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Konstruktion von Fremdheit im Gerichtssaal. Eine Ethnografie der Justiz
Shemsije Gjelili & Vanessa Yamoah Imoro
Präsentation der Lehrforschungsergebnisse
"doing becoming and doing being stranger/strangeness" SoSe 2019 - WiSe 2019/20 // Institut für Soziologie //
AB Qualitative Methoden und Mikrosoziologie
Shemsije Gjelili & Vanessa Yamoah Imoro
Gerichte sind im Alltagsverständnis häufig ganz besondere Orte. Orte an denen nach dem Gesetz objektiv und neutral geurteilt wird. Richter*innen sind Akteur*innen, die über Recht und Unrecht entscheiden. Diese Urteile sind folgenreich für diejenigen, deren Taten vor Gericht verhandelt werden.
Ein Blick auf den Alltag in Deutschland zeigt allerdings, dass Institutionen wie das Gericht so neutral und objektiv nicht immer sind (etwa bezogen auf Rassismus vor Gericht siehe Bartel/Liebscher/Remus 2017). Es sind machtdurchdrungende Orte des Kulturellen. Sie sind nicht frei von stereotypischen Zuschreibungen bis hin zu Diskriminierungen, darauf haben zahlreiche Studien der Geschichtswissenschaft, aber auch der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung hingewiesen. Entlang von unterschiedlichen Dimensionen sozialer Differenzierung wie Alter, Religion, Milieu, Race und Geschlecht strukturieren sich Bewertungen, die Menschen bei juristischen Verhandlungen privilegieren oder gar abwerten. Damit sind Institutionen durchaus Gegenstand auch (fremdheits-)soziologischer Untersuchungen (z.B. Schütze 1978).
Hier reiht sich unsere soziologische Forschung ein. Wobei der Fokus etwas anders gesetzt ist. Wir fokussieren Fremdheit im Gericht und gehen von der Annahme aus, dass entlang von Fremdheit soziale Unterschiede, die zu sozialer Ungleichheit führen können, gemacht werden. Dabei geht es in unserer Forschung deutungsoffen um die Frage, wie Fremdheit hergestellt wird im Gerichtssaal.[1] Wann werden Personen zu Fremden gemacht und inwiefern erleben sie – z. B. Richter*innen und Beschuldigten/Angeklagten – sich als fremd. Ausgehend von einem ethnografischen Zugang möchten wir Deutungs- und Handlungsmuster der Akteur*innen entlang von Fremdsein und Fremdwerden im Feld des Gerichts rekonsturieren. Durch einen ethnografischen Zugang – Beobachtungen und Gespräche im Gerichtssaal – werden wir diesen Fragen auf die Spur kommen.
[1] Für diese Fokuserweiterung haben wir uns aus forschungspraktischen Erwägungen entschieden, obwohl das Thema der Studie eigentlich Race im Gerichtssaal fokussieren sollte. Der Blick auf Fremdheit im Allgemeinen lag an den Bedingungen des Feldzugangs: Aufgrund der zeitlichen Rahmenbedingungen und der eingeschränkten Möglichkeiten selbst Fälle, die verhandelt wurden, im Gerichtssaal auszuwählen, wurde die Fragestellung an den Untersuchungsgegenstand angepasst.
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Um die Herstellung von Fremdheit im Gericht zu untersuchen, stützt sich unsere Forschung auf den erweiterten Ansatz des doing strangeness im Anschluss des doing difference-Ansatzes von West und Fenstermaker (1995). Zentrale Annahme ist, dass durch aktives alltägliches Tun Fremdheit entlang unterschiedlicher Dimensionen sozialer Differenzierung, wie Alter, Geschlecht, Race u. a. gemacht wird. Der doing-Ansatz beschreibt schlicht, dass etwas durch das Tun hergestellt wird. Unterschiede sind nicht, sondern sie werden. Somit kreieren Personen ausgehend von ihrem juristischen Kontext Unterschiede, die sich in den Interaktionen – Mimiken, Gestiken etc. - ausdrücken und im Allgemeinen nicht so präsent waren. Der Ansatz erlaubt uns herauszuarbeiten, welche Dimensionen zentral sind bei der Herstellung von Fremdheit in Wechselwirkung mit anderen Dimensionen (West/Fenstermaker 1995). Genau diese Denkweise von West und Fenstermaker (1995) ist für unsere Forschung grundlegend. Wir fragen nach der Dynamik dieser Dimensionen unter dem Dach der Fremdheit innerhalb des Gerichts, um zu verstehen wie diese miteinander agieren. Was und wer ist der/die/das Fremde im Gericht und welche Dimensionen sind dabei in ihrer Wechselwirkung von Gewicht?
Um die Fremdheit und das Fremdwerden im Gericht zu untersuchen, wurde die Methode der teilnehmenden Beobachtung und des freundlichen Gesprächs nach Spradley (2016) gewählt. Die Forschenden protokollierten alle Ereignisse – Handlungen wie Mimik, Gestik u.a. – vom Eintritt bis zum Verlassen des Gebäudes. Die Feldnotizen sind ein Teil der Datenerhebung. Es beinhaltet Geschehnisse im Gerichtsgebäude, während der Einlasskontrolle oder auch im Sitzungssaal. Die forschende Person nahm persönlich an den Interaktionen im Gerichtsgebäude teil und wenn möglich wurden Gespräche mit den Personen im Gebäude geführt. Die Beobachtungen fanden an verschiedenen Tagen und auch bei unterschiedlichen Richter*innen statt. Insgesamt wurden zwei Richter und zwei Richterinnen besucht. Daraus resultieren vier Beobachtungsprotokolle, die für die Analyse unerlässlich waren. In der Analyse wurden fünf Problemfelder herausgearbeitet und diese wurden dann mit den Protokollen aus dem Gericht interpretiert und diskutiert. Ein wichtiger Teil der Bearbeitung der Dimensionen ist die Auswertung der Mitschriften. Bei dieser wird die Grounded Theory-Methodik nach Strauss und Corbin (1996) verwendet. Die Grounded Theory, die hier als Auswertungsmethode herangezogen wurde, bietet den Forschenden die Möglichkeit auf der Grundlage der Protokolle und der Feldnotizen die soziale Welt, ausgehend vom Kontext des Gerichts, zu verstehen und zu deuten. Dabei haben wir uns auf das Codierverfahren der Grounded Theory (Strauss/Corbin 1996) gestützt. Dies passiert in drei Schritten. Das Datenmaterial wird im ersten Schritt offen kodiert. Man stellt theoriegenerierende W-Fragen. Im nächsten Schritt folgt das axiale Kodieren, hier werden die gebildeten Kategorien in einen Zusammenhang gebracht. Während des Forschungsprozesses findet häufig ein Wechsel zwischen den beiden Schritten statt. Im dritten und letzten Punkt wird die selektive Kodierung durchgeführt. So findet eine weitere Verdichtung der Kategorien statt, die für die Theoriebildung nötig ist. Ziel hierbei ist, eine Theorie zu erstellen, die die eigenen Daten beinhaltet und die Problematik bzw. die Fragestellung zusammengefasst.
Zu einem Ergebnis kamen wir, in dem wir aus unseren teilnehmenden Beobachtungen fünf Dimensionen ausgehend vom empirischen Material erstellten: 1. Einlasskontrolle, 2. (Macht)Beziehung, 3. Stadt, 4. Erfahrungswissen und 5. Architektur des Gerichtssaals. Anhand dieser Dimensionen verdeutlichte sich, dass Fremdheit im Gericht auf sehr unterschiedliche Weise konstruiert und erfahren wird.
„Bereits am Eingang des Amtsgerichts fand das erste interessante Ereignis statt. Grundsätzlich findet am Einlass eine reguläre Kontrolle statt, bei der ein Ausweis vorgezeigt werden muss, als auch eine Körperkontrolle. Da ich bereits zahlreiche Male im Gericht gewesen bin, war ich den Justizbeamten nicht mehr fremd. Der Justizbeamte, verdeutlichte, dass er meinen Ausweis nicht sehen müsse, da er mich bereits kennt“ (4. Protokoll, S. 1, Z. 1-5)
Bei der Einlasskontrolle konnte festgestellt werden, dass schon bei der ersten Begegnung im Gerichtsgebäude eine gewisse Fremdheit konstruiert wird. Zum einen wird mit einem Dateidokument auf der Website darauf hingewiesen, dass es um die Sicherheit aller Menschen geht, dennoch werden nur Besucher*innen des Gerichts kontrolliert und Mitarbeiter*innen, die einen Mitarbeiter*innenausweis vorweisen können, nicht. Menschen, die dem Gericht nicht alltäglich begegnen, werden mit strengeren Kontrollen zu einer Gefahr für alle gemacht und als bedrohlich fremd hergestellt.
„Bei Fragen des Richters reagiert der Angeklagte mit Aussagen wie „Ihr Ernst“ und „Chill“, welches den Richter sehr wütend macht. Der Richter daraufhin. „Jetzt bleiben sie ruhig, ich kann auch anders“.“ (2. Protokoll, S. 2, Z. 58-60)
In dieser Szene fällt der Angeklagte offenbar aus der ihm zugeschriebenen angemessenen Rolle des Angeklagten. Um auf Milde bei der Beurteilung durch den Richter, der durchaus Ermessensspielraum bei der Beurteilung der Tat hat, zu hoffen, wäre vermutlich Freundlichkeit und Einsichtsfähigkeit strategisch gewinnbringend in der Interaktion. Das tut der Angeklagte hier nicht, sondern begegnet dem Richter eher „patzig“, was an den sprachlichen Äußerungen des Angeklagten deutlich wird. Der Richter fühlt sich veranlasst die hierarchische Ordnung der Rollen wieder einzuführen, indem er dem Angeklagten droht. Zu diskutieren ist, inwiefern der Richter hier selbst aus der Rolle fällt und seine Macht missbraucht. Ein solches aggressives Auftreten konnte bei den Richterinnen und Angeklagtinnen nicht beobachtet werden.
„In der Pause haben sich die Anwälte und die Richterin zusammen unterhalten. Es schien so als würden sie sich wie Freunde unterhalten. Der Verteidiger legte auch seine Robe ab und ging in die Richtung vom Staatsanwalt und hat sich vor seinem Tisch gestellt. Sie sprachen über das Thema Chemie oder auch über die Vergesslichkeit. Die Richterin hatte währenddessen immer in unsere Richtung geschaut. Sie lachten gemeinsam.“ (1. Protokoll, S.2, Z. 46-51)
„Sie sprachen auch darüber, wie das Verhältnis zwischen Richtern und Anwälten in der Stadt ist. Die Richterin meint, dass man sich hier in der Stadt unter den Anwälten und den Richtern kennt und sich eigentlich gut versteht. Sie merkt an, dass das bei einigen Anwälten, die aus anderen Regionen kommen nicht immer so ist. Die beiden Anwälte stimmen der Richterin zu und nicken dabei“ (1.Protokoll, S.2, Z. 51-54)
In den Auszügen wird im untersuchten Gericht deutlich, das zwischen den Richter*innen und Anwält*innen oft ein gutes Verhältnis herrscht, vor allem wenn sie aus einer Stadt stammen und sich öfter im Sitzungssaal sehen. In einem ersten Protokoll wurde aufgezeigt, das eine Abgrenzung zu den Anwält*innen aus anderen Regionen stattfindet. Durch die Abgrenzung wird Fremdheit konstruiert. Hiermit könnte eine Andersbehandlung hervorgehen, die mit einer gewissen Voreinstellung verknüpft ist, was dieser Auszug zur Interaktion im Gerichtssaal vermuten lässt:
„Der Verteidiger und die Staatsanwältin gingen zu einem Polizisten und sprachen mit ihm. Die Staatsanwältin sagt, der Angeklagte hätte das nur dem Verteidiger zu verdanken. Da hatte der Jurastudent Glück gehabt. Mir kamen die Fragen auf: Hätte der Angeklagte einen anderen Verteidiger, wäre es heute anders verlaufen? Lag es daran, dass der Verteidiger und die Richterin sich eigentlich gut verstehen? War das jetzt fair? Der Verteidiger geht auf den Polizisten ein und sagt er versteht vollkommen, dass er unzufrieden ist. Auch hier fragte ich mich: Müsste er sich nicht mit dem Angeklagten sympathisieren? Der Verteidiger sagte, mit diesem Verhalten hält er nicht lange als Anwalt durch, er würde überall anecken.“ (3.Protokoll, S.3, Z. 78-85)
Die Staatsanwältin sagte dem enttäuschten Polizisten, dass der Angeklagte an diesem Tag nur Glück gehabt hätte. An diesem Tag waren die Richterin und der Verteidiger aus dem ersten Protokoll anwesend. Sie haben ein gutes Verhältnis. Es macht den Eindruck, dass das Verhältnis zwischen den Akteur*innen im Gerichtssaal eine Rolle bei der Entscheidung spielt. Auch hier fühlen sich die beteiligten Personen nicht fremd. Sie kennen einander. Inwiefern hier Milieu bzw. Bildung eine zentrale Größe bei der Verhandlung sind, bleibt zu untersuchen.
Fremdheit entsteht dann, wenn etwas nicht der Norm entspricht und als “Anders” erkannt wird. Aus der Perspektive der Justiz sind Angeklagte dem Gericht fremd, da sie nicht das Gesetz vertreten. An dieser Stelle wird Fremdheit konstruiert. Nicht nur in der Ausdrucksweise der Vertretenden des Gesetzes, sondern auch bei Fragen, die den Angeklagten verunsichern sollen, um dem Gericht Gerechtigkeit zu gewähren. Interessanterweise fühlten sich die Angeklagten in unseren Beobachtungen im Gericht nicht immer fremd. Zu einem Fall beispielhaft im Protokoll:
„Zu Beginn geht er auf das Auto ein, welches nicht in seinem Besitz ist, sondern ihm von seiner Mutter geschenkt worden sei. Er erklärt dem Gericht, dass es einen Unterschied zwischen Haltung und Besitz gibt und dementsprechend das Auto nicht einbehalten werden darf. Anhand dessen übermittelt der Angeklagte eine gewisse Sicherheit und es scheint, als wäre er dem Gericht nicht fremd.“ (4. Protokoll, S. 2, Z. 67-70)
Der Angeklagte besetzt die Position des Experten und scheint sich souverän und sicher zu fühlen und nicht fremd. Haben die Angeklagt*innen bereits häufig Erfahungen mit dem Gericht gemacht, scheinen Sie an Soveränität in dem Interaktionsarrangement zwischen Richter*innen und Angeklagt*innen zu gewinnen.
„Die Haltung des Angeklagten ist sehr lässig und er schaut öfter aus dem Fenster. Als würde es ihn nicht kümmern, vermeidet er jeglichen Blickkontakt mit dem Richter.“ (4. Protokoll, S.3, Z. 37-38)
Der Angeklagte scheint durch das Gericht bzw. die Richter*innen nicht eingeschüchtert zu sein, wie an seiner Haltung ablesbar ist. Durch die Verhandlung, an der wir teilnehmen konnten, kamen wir zu der Erkenntnis, dass Personen, die des Öfteren angeklagt sind, kein Fremdheitsgefühl besitzen und sich nicht nur mit der Prozedur des Gerichts auskennen, sondern durch zahlreiches Erscheinen vor Gericht, das Gesetz und was dieses beinhaltet perfektionierten.
„Der Saal vermittelt ein eher hieratisches Gefühl. Das Podest an dem die Richter, Schöffen und der Protokollant ihren Platz nehmen, ist höher und strahlt eine gewisse Dominanz aus. Etwas niedriger auf der linken Seite – die Staatsanwältin, ein Jugendarbeiter und eine Vertreterin der Gerichtsmedizin. Rechts befinden sich Verteidiger und Angeklagter.“ (3. Protokoll, S.1, Z. 3-8)
Die letzte Dimension beinhaltet den Aufbau des Gerichtssaals. Die Anordnung der Tische und die Erhöhung des Richter*innen-Tisches kann bei Angeklagt*innen aber auch für andere Personen die den Sitzungssaal besuchen, eine Fremdheit erwecken. Auch kann die Erhöhung als eine Art „Sicht der Ferne" betrachtet werden. Der Eindruck der Distanz taucht auch hier auf, welche wiederum eine Fremdheit konstruieren kann. Dennoch erwartet man eine förmliche Distanz zwischen den beteiligten Parteien im Gerichtssaal, um ein unvoreingenommenes Urteil zu erwarten.
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Bartel, D., Liebscher, D., & Remus, J. (2017). Rassismus vor Gericht: weiße Norm und Schwarzes Wissen im deutschen Recht. In Rassismuskritik und Widerstandsformen. Wiesbaden. Springer VS: 361-383.
Schütze, F. (1978): Strategische Interaktion im Verwaltungsgericht. Eine soziolinguistische Analyse zum Kommunikationsverlauf im Verfahren zur Anerkennung als Wehrdienstverweigerer. In: Schriften der Vereinigung für Rechtssoziologie. 2: 19-100.
Spradley, J. P. (2016). The ethnographic interview. Long Grove. Waveland Press.
Strauss, A. L., Corbin, J. M. (1996). Grounded theory: Grundlagen qualitativer sozialforschung. Weinheim. Beltz.
West, C., & Fenstermaker, S. (1995). Doing difference. Gender & society. 9(1): 8-37.
Gjelili, Shemsije/Yamoah Imoro, Vanessa (2020): Konstruktion von Fremdheit im Gerichtssaal. Eine Ethnografie der Justiz. Entstanden im Rahmen der Lehrforschung "Fremdsein & Fremdwerden heute - ein ethnografischer Streifzug durch die Stadt" von Eva Tolasch am AB Qualitative Methoden und Mikrosoziologie des Instituts für Soziologie der FSU Jena. URL: https://fremdheit-in-der-stadt.de/projekt3