Lehrforschung "Fremdsein & Fremdwerden heute.
Ein ethnografischer Streifzug durch die Stadt"

Fremdsein & Fremdwerden heute. Ein ethnografischer Streifzug durch die Stadt

 

Präsentation der Lehrforschungsergebnisse 

"doing becoming and doing being stranger/strangeness" SoSe 2019 - WiSe 2019/20 // Institut für Soziologie //
AB Qualitative Methoden und Mikrosoziologie


 

Fremdheit im institutionalsierten Alltag von geflüchteten Frauen (er)leben. Ethnografische Begegnungen

Karla Schmidt & Jule Zimdahl

Einleitung

Wie (er)leben geflüchtete Frauen ihren Alltag? 

Wissen Sie, dass knapp 71 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht sind? Mehr Menschen als jemals zuvor, so bestätigt der UNHCR (2019:4), suchen Schutz und Sicherheit in anderen Ländern. Doch nur ein Bruchteil derer findet Zuflucht in Europa. Verantwortlich dafür sind verschärfte Gesetze, internationale Abkommen und geschlossene Grenzen. Spätestens seit dem Jahr 2015 – als über zwei Millionen Menschen nach Deutschland gekommen sind – wird wohl jedem in Deutschland klar sein, dass Asyl, Flucht und Migration die dominierenden Themen des 21. Jahrhunderts sind. 

Trotz der Fülle von empirischen Studien zu diesen Themen zeigt sich bis heute, dass die Repräsentation und die Perspektive von Betroffenen in den Medien, in der Öffentlichkeit und in der Forschung kaum berücksichtigt werden (vgl. etwa Schneider 2009). Wird Flucht und Migration jedoch thematisiert, dann ist die Debatte medial männlich geprägt (ebd.). Das kann dem zugrunde liegen, dass die Frauen weiterhin nur als ‚Anhängsel‘ der Männer betrachtet und sie durch die traditionelle Rollenvorstellung als passive und von den Männern abhängige Akteur*innen wahrgenommen werden (Han 2003: 1). Doch seit einigen Jahren findet zumindest in der Praxis ein Umdenken statt und das Motto lautet: ‚Migration ist weiblich‘. Unter diesem Motto erfahren Frauen durch institutionelle Organisationen, wie Frauenzentren, Frauenhäuser und Vereine Unterstützung und Möglichkeiten zum Austausch. Diese Unterstützung ist unabdingbar für die Berücksichtigung der Perspektiven und Situationen der Frauen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie geflüchtete Frauen ihren institutionalisierten Alltag (er)leben? Um dieser Fragen nachzugehen, bietet sich ein ethnografischer Ansatz an, der es ermöglicht Frauen mit Fluchterfahrung im institutionellen Alltag zu begleiten und mit ihnen als Expertinnen ihrer Lebenswelt ins Gespräch zu kommen. 

Perspektive

Aus welcher Perspektive forschten wir? 

Unsere Forschungsperspektive stützt sich auf dem Ansatz des ‚doing differences‘ nach West und Fenstermaker. Als ‚differences‘ verstehen West und Fenstermaker soziale (Differenz-)Kategorien, die nach dem Konzept des ‚doing‘ andauernd im alltäglichen Tun praktiziert werden und Kategorisierungen und Identifizierungen ermöglichen (Hirschauer 2014:173). Es geht also um Kategorien, die Auslöser für soziale Ungleichheiten und Verschiedenheiten sein können (vgl. Chrenshaw 1989). Darunter zählen neben den viel diskutierten Kategorien: Geschlecht, Ethnizität, Klasse und Religion auch Kategorisierungen, die nicht ganz so präsent sind, unter anderem Fremdheit. Es klingt nicht ganz nachvollziehbar, aber fragen Sie sich selbst: Wie wird Fremdheit von Ihnen und in Ihrem Alltag (re)produziert? Wer ist in ihren Augen “fremd“ und warum? Fremdheit wird hergestellt und durch Sprache, in Interaktionen und über Handlungen permanent ausgehandelt (West 1991:14). Genau hierbei liegt unser Fokus. Wir möchten den Alltag der Frauen und die Konstruktion und (Re)produktion von Fremdheit – doing strangeness – in unserer Forschung untersuchen. Nach West und Fenstermaker jedoch werden soziale Kategorien immer gleichzeitig mit anderen Kategorien hergestellt und differenziert (West 1995:182). Unter ‚doing X while doing Y‘ verstehen sie die Betrachtung der Verwobenheit der sozialen Kategorien (ebd.). Übersetzt auf unsere Forschung bedeutet das, dass wir Fremdheit nicht isoliert untersuchen können, sondern die Verschränkung mit anderen Kategorien berücksichtigen müssen. Hierbei fokussieren wir in unserer Forschung vor allem die Verwobenheit von Fremdsein und Frausein: Damit fragen wir nach dem „doing strangeness while doing woman/gender“. Vorab anzumerken ist, dass es die Frauen mit Fluchterfahrung nicht gibt, sondern einzelne Frauen, die die gemeinsame Fluchterfahrung teilen (Haraway 1995: 86).   Dies liegt daran, dass die Frauen unterschiedlich in gesellschaftliche Verhältnisse eingebunden sind entlang verschiedener sich wechselseitig durchringender Differenzkategorien, die zur sozialen Ungleichheit führen können.

Methode

Wie erhoben wir nun unsere Daten? 

Durch unsere bereits beschriebene Perspektive des ‚doing strangeness while doing gender ‘ lag unser Fokus auf den Interaktionen zwischen den erforschten Frauen und deren Umwelt. Somit war uns die Nähe zum Feld – das sogenannte ‚Eintauchen‘ – besonders wichtig, um die Alltagsgestaltung der Frauen erforschen zu können. Um die soziale Wirklichkeit erkunden zu können, wandten wir uns der qualitativen Methode der Ethnografie zu. Dabei basierte unser Forschungsvorhaben auf dem „freundlichen Gespräch“ (2016: 58) nach James Spradley. Dies gab uns in der Position der Forscherinnen den Rahmen, wie keine andere qualitative Sozialforschung, einen persönlichen Kontakt zu den Frauen aufzunehmen und die Frauen mit Fluchterfahrung in ihrem institutionellen Alltag zu begleiten, um Deutungs- und Handlungsmuster zu rekonstruieren. Damit ist es ein Verfahren, welches die Praxis analysiert und Forscherinnen unmittelbar am Alltag teilnehmen lässt. Das Nah-Dran-Sein ist die große Stärke des ethnografischen Forschungszugangs. 

Problemorientiert kontaktierten wir via „Snowball-Sampling“ (Przyborski und Wohrab-Sahr 2008: 180) einen Verein, der Angebote für Frauen mit Fluchterfahrung bereitstellt. Darüber konnten wir zwei unserer Interviewpartnerinnen – zwei Frauen, zwei unterschiedliche Sprachniveaus, beide vereint die Flucht nach Deutschland – gewinnen. Wir führten insgesamt drei ethnografische Interviews, in drei unterschiedlichen Settings mit ihnen: ein Nähkurs, veranstaltet von einer unserer Informantinnen, adressiert an geflüchtete Frauen. Zudem begleiteten wir eine Frau bei ihrem wöchentlichen Einkauf und zuletzt durften wir uns bei einem Besuch auf dem Weihnachtsmarkt anschließen. Drei Orte, die ihren Alltag zur damaligen Zeit zum Teil skizzierten. Auf Grundlage der geführten Interviews fertigten wir schriftliche Protokolle (Autor*innen nennen sie Verlaufsplan zu den Sitzungen) an, in denen wir durch Kodierung und Konzeptualisierung in Anlehnung an die Grounded Theory nach Strauss und Corbin (1996) vorkommende Phänomene benannt und kategorisiert haben. Die Ergebnisse  werden wir im Folgenden darlegen. 

Ergebnisse

Was lesen wir Forscherinnen aus den Daten heraus? 

Mit Blick auf die Daten, die durch das ethnografische Interview nach Spradley  (2016) mit Frauen mit Fluchterfahrung erhoben wurden, zeigte sich ausgehend von dem doing strangeness-Ansatz quer zu den Ergebnissen (im Anschluss an das doing strangeness zeigten sich via Sprache ‚Wir und die Anderen‘ mit Rekurs auf eigensinnige kulturelle Handlungsroutinen, Diskriminierungserfahrung und via Unvertrautheit) zwei zentrale übergeordnete Befunde, die hier in den Fokus gerückt werden sollen:

  • Frauen unter sich: Um sich Fremdheitserleben zu entziehen, wurden sichere Orte, die maßgeblich über das Geschlecht bestimmt werden, gesucht.
  • Alternative Orte der Anerkennung und Wertschätzung: Diese sicheren Orte des „Nicht-Fremd-Sein und -Werdens“ wurden zu Orten des ‚Empowerments unter Frauen‘ in einer Gesellschaft, die sie nicht im gleichen Maße teilhaben lässt oder sie gar an der Partizipation ausschließt und/oder auch diskriminiert.

Zum ersten Ergebnis: Die Frauen haben Räume aufgesucht, in denen sie sich dem möglichen Fremdheitserleben entziehen können. Räume, die ihnen vertraut sind und in denen sie sicher sind. Sicherheitsbehaftete Räume sind wesentliche Bestandteile ihres Alltags. Wir begleiteten die Frauen beim Arbeiten, Einkaufen und auf dem Weihnachtsmarkt. Orte, an denen sie ihrem Beruf nachgehen, ihren Alltag leben und ihre Freizeit genießen können. All diese Orte sind eingerahmt durch den Aspekt der Sicherheit und der Entziehung möglicher Fremdheitszuschreibungen. Es lässt sich zeigen, dass aus Sicht der Frauen am meisten Sicherheit über das gemeinsame Geschlecht „Frausein“ gegeben wird und sie aktiv Orte in ihren Alltag integrieren, die das bieten. Das zeigt sich zum Beispiel in dieser Sequenz im ethnografischen Protokoll als es um den Feldzugang ging: „Dass eine zweite Person bei der Forschung dabei sein sollte, verunsicherte die Frauen und sie fragten mich über diese Person aus. Ich wurde gefragt, ob sie auch eine Frau ist.“ Die Frauen scheinen sich vergewissern zu wollen, dass sie sich auch in Gegenwart der zweiten Person sicher fühlen werden. Sie versuchen durch vorheriges Abklären der Situation ein Risiko der Situation der Gefährdung oder eines Unwohlseins zu verhindern und möglichen, unangenehmen Gegebenheiten vorzubeugen. Dabei war das Geschlecht, wie sich über das gesamte Material zeigte, besonders relevant, um dazuzugehören und nicht fremd zu sein bzw. sie nicht fremd werden zu lassen. 

Zum zweiten Ergebnis: Die Sicherheit der Frauen-Räume bzw. des ‚unter Fraueseins‘ bieten den Frauen nicht nur die Möglichkeit geschützt zu sein und sich nicht als fremd zu erleben, sondern es ist ein Raum, in dem sich die Frauen gegenseitig unterstützen und empowern. Im Nähkurs und auf dem Weihnachtsmarkt war zu beobachten, dass die Frauen sich häufig gegenseitig Komplimente machten und sehr freundlich zueinander waren. Im Nähkurs folgende eine Szene, die in anderer Form immer wieder auftaucht: 

„Eine der Frauen probierte ein halb fertiges Kleid an. Zwei Frauen standen direkt neben ihr und zupften an ein paar Stellen des Kleides herum. Drei weitere Frauen, die am Tisch saßen, schauten dabei zu und machten ihr Komplimente.“ (Z. 190-194)

Das Anprobieren der genähten Kleidung ist damit eine Handlung, an der alle Frauen  teilnehmen. Die Frauen ziehen sich dafür nicht zurück, sondern präsentieren ganz offen, was sie geschaffen haben. Für ihre Leistung werden sie von den anderen Frauen gelobt und die Arbeit wird wertgeschätzt. In Bezug auf die Herstellung von Fremdheit ist hier der gleiche Mechanismus zu erkennen, wie bei dem Aspekt des persönlichen Einbeziehens (hier nicht weiter thematisiert). Die Komplimente bilden eine Brücke zwischen den Frauen, die sie verbindet. Sie geben sich gegenseitig Anerkennung und Zuspruch, indem sie sich wertschätzen und stärken. Es drängt sich die Lesart auf, dass es hier nicht primär um das Nähen geht, sondern um den Raum der Anerkennung und Partizipation, der ihnen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Positionierung und ihres zugeschriebenen Status der Fremden, in anderen sozialen Bereichen verwehrt wird. Der Status des Fremden bezieht sich nicht nur auf individuelle Adressierungen, sondern auch und insbesondere auf strukturelle Momente, wie z. B. finanzielle Ressourcen und Staatsbürger*innenrechte, die bestimmen inwiefern sie gleichberechtigt am Alltag teilhaben dürfen/können.  

Schlussfolgernd lässt sich sagen, dass das Bilden und Aufsuchen von Räumen, die Sicherheit und Vertrautheit spenden, den Frauen die Gelegenheit bietet, sich auszutauschen, sich zu empowern, sich zu unterstützen und ein Miteinander zu schaffen, das sie bestärkt. Diese Räume sind unabdingbar damit die Frauen mit Fluchterfahrung die Möglichkeit haben, an der Existenzgestaltung der Gesellschaft teilzunehmen. 

Literatur

Akashe-Böhme, Farideh (1994): Frausein-Fremdsein. Frankfurt am Main: Fischer Verlag. 

Chrenshaw, Kimberlé (2010) [1989]. Die Intersektion von ‚Rasse‘ und Geschlecht demarginalisieren: Eine Schwarze feministische Kritik an Antidiskriminierungsrecht, der feministischen Theorie und der antirassistischen Politik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 

Han, Petrus: Frauen und Migration (2003): Strukturelle Bedingungen, Fakten und soziale Folgen der Frauenmigration, Stuttgart: Lucius & Lucius.

Haraway, Donna (1995): Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt. Campus-Verlag.

Hirschauer, Stefan: Un/doing Differences (2014): die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten, in: Zeitschrift für Soziologie. 43/3: 170- 191. 

Schneider, Jan (2009): Pro Zuwanderung-pro Zuwanderer? Chancen und Grenzen der Repräsentation von Zuwandererinteressen in der Beratung von Migrationspolitik: Die Süssmuth- Kommission im Kontext, in: Linden, Markus/Thaa, Winfried (Hg.): Die politische Repräsentation von Fremden und Armen. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft.

Spradley, James P. (2016): The Ethnographic Interview. Long Grove: Waveland Press.

Strauss, Anselm L., Corbin, Juliet M. (1996). Grounded theory: Grundlagen qualitativer sozialforschung. Weinheim. Beltz.

United High Commissioner for Refugees (UNHCR) (2019): Global Trends. Forces Displacement in 2018, Schweiz: UNHCR. 

West, Candace; Zimmerman, Don H. (1991): Doing gender, in: Judith Lorber; Susan A. Farrell (Hg.), The social construction of gender.  Newbury Park: Sage Publications: 7- 13. 

West, Candace/Fenstermaker, Sarah (1995). Doing difference. Gender & Society. 9(1): 8-37.

Autor*innenschaft

Schmidt, Karla/Zimdahl, Jule (2020): Fremdheit im institutionalsierten Alltag von geflüchteten Frauen (er)leben. Ethnografische Begegnungen. Entstanden im Rahmen der Lehrforschung "Fremdsein & Fremdwerden heute - ein ethnografischer Streifzug durch die Stadt" von Eva Tolasch am AB Qualitative Methoden und Mikrosoziologie des Instituts für Soziologie der FSU Jena. URL: https://fremdheit-in-der-stadt.de/projekt2

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